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„In zwei Fällen ist Angst nicht erlaubt
im Krieg und in der Liebe.“

Die Familien Kot und Kałucka

Skulptur eines „Gerechten“

Erst seit zwei Monaten bin ich an der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg tätig, als uns eine Nachricht aus Krakau erreicht. Da ich mich in meiner Forschung besonders für die Aufarbeitung der deutschen Fremd- und Terrorherrschaft in Polen interessiere, übernehme ich die Anfrage.

Ein polnischer Antiquitätenhändler bietet eine Holzskulptur an, die einen gekrümmten, schwer arbeitenden, dem Tode nahen Häftling zeigt. Auf der Bodenplatte der Figur werden drei Konzentrationslager und Häftlingsnummern genannt: „7891 Groß-Rosen“, „85034 Flossenbürg Hersbruck“ und „161071 Dachau“.

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Das beeindruckende Objekt ist mit „T.Kot“ signiert. Der Händler schreibt, ihm lägen sonst keine Informationen zum Urheber vor. Er möchte deshalb wissen, ob eine Person dieses Namens in unserer Liste der Lagerhäftlinge zu finden sei. Damit beginnt meine Recherche.

Abgleich der Häftlingsnummern

Im ersten Schritt gleiche ich die eingeschnitzten Häftlingsnummern mit unserer Datenbank Memorial Archives ab. Wer war in den Konzentrationslagern Groß-Rosen, Flossenbürg und Dachau mit diesen Nummern registriert?

Alle drei Nummern führen zu der selben Person: Tadeusz Kot,
geboren am 14. Juli 1915 in Krakau, politischer Häftling.

Laut des Nummernbuchs wird Tadeusz Kot am 10. Februar 1945 aus dem KZ Groß-Rosen in das Flossenbürger Außenlager Hersbruck gebracht, das er am 15. Februar erreicht.

Zwei Monate später, am 8. April 1945, wird er auf einen Todesmarsch in Richtung Dachau geschickt. Die Zugangsliste des KZ Dachau bezeugt seine Ankunft und Registrierung am 24. April. Zu diesem Zeitpunkt ist das KZ Flossenbürg bereits von der U.S. Army befreit worden.

Am 29. April 1945 wird schließlich auch Tadeusz Kot aus der KZ-Haft befreit. Seinen Haft- und Leidensweg bezeugt er in einer schriftlichen Erklärung.

Erklärungsschreiben von Tadeusz Kot, 20.8.1945 (KZ-Gedenkstätte Dachau / KZ-Gedenkstätte Flossenbürg)

Dem Antiquitätenhändler teile ich mit, dass die Skulptur tatsächlich von einem ehemaligen Häftling namens Tadeusz Kot stammt und ein Selbstbildnis darstellen dürfte. Sowohl der rote Häftlingswinkel mit „P“ für Polen, die eingeschnitzten Häftlingsnummern als auch die Konzentrationslager stimmen mit seiner Biografie überein.

Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg erwirbt schließlich die Skulptur.

Mich beschäftigt jedoch weiterhin die Frage: Wer war Tadeusz Kot?

Kriegsteilnahme

Ich sichte weitere Dokumente des befreiten Konzentrationslagers Dachau. Auf einem Formular hat Tadeusz Kot einige Fragen zu seiner Person beantwortet.

Tadeusz war verheiratet, Vater einer Tochter und Buchhalter.

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Weiter gibt er an, während des Kriegs Mitglied der polnischen Heimatarmee sowie Offizier des 5. Kavallerie-Schützen-Regiments gewesen zu sein.

Fragebogen zum ehemaligen Häftling Tadeusz Kot, 5.7.1945 (KZ-Gedenkstätte Dachau / KZ-Gedenkstätte Flossenbürg)

Zu den Offizieren der verschiedenen Kavallerie-Schützen-Regimente im September 1939 hat insbesondere Professor Zbigniew Gnat-Wieteski geforscht. In einem Buch nennt er einen „Unterleutnant der Reserve Tadeusz Kot“, der während des deutschen Angriffskrieges Kommandeur des 3. Zuges der 3. Schwadron der „Kraków“-Armee gewesen sei.

Ab dem 13. September 1939 ist Tadeusz der improvisierten „Lublin“-Armee zugeteilt und nimmt vom 17. bis zum 20. September an der ersten Schlacht von Tomaszów Lubelski teil. Seine Einheit muss schließlich kapitulieren, da ein Durchbruch nach Süden scheitert.

Tadeusz wird verwundet.

Ein Denkmal erinnert heute an diese Schlacht.

Die polnischen Offiziere geraten nach den verlustreichen Kämpfen bei Tomaszów Lubelski in deutsche Kriegsgefangenschaft – allerdings nicht in das deutsche Konzentrationslagersystem.


In den Formularen, die Tadeusz nach seiner Befreiung in Dachau ausfüllt, gibt er an, erst am 21. Juli 1944 von der Gestapo in Krakau als politischer Häftling verhaftet worden zu sein.

Offene Fragen

Was passierte mit Tadeusz nach der Niederlage der polnischen Armee? Wie erlebte er die deutsche Besatzung? Warum wurde er schließlich verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht? Wie erging es ihm nach der Befreiung? Lebt er vielleicht sogar noch?

Ich stelle eine Anfrage an das Archiv der Stadt Krakau, denn viele Überlebende kehrten nach der Befreiung in ihre Heimat zurück. Eine weitere Anfrage sende ich an die KZ-Gedenkstätte Groß-Rosen, da dieses Konzentrationslager Tadeusz' erster Haftort war. Das Archiv der Gedenkstätte könnte deshalb nähere Informationen zu seiner Verhaftung haben.

Ziemlich schnell erhalte ich von der KZ-Gedenkstätte Groß-Rosen eine hilfreiche Antwort:

Im polnischen Untergrund

Aus den Dokumenten der KZ-Gedenkstätte Groß-Rosen geht hervor, dass Tadeusz nach der Niederlage bei Tomaszów Lubelski in Kriegsgefangenschaft geriet und im Oflag VII A im oberbayerischen Murnau inhaftiert war. Er kann schließlich flüchten und schlägt sich von Deutschland bis in seine Heimat durch.

Dort schließt er sich dem polnischen Untergrund an.

Polnischer Untergrundstaat

Der Polnische Untergrundstaat ist ein System staatlicher Behörden, das während der Besatzungszeit im Namen der polnischen Exilregierung in London handelt und vom 27. September 1939 bis 1945 aktiv ist. Im Geheimen werden starke militärische Strukturen aufgebaut und die unter deutscher Besatzungsherrschaft verbotenen Lebensbereiche neu organisiert: ein gesamter Staatsapparat mit Parlament, Verwaltung, Justiz, Wissenschaft, Bildung und Kultur sowie Sozialfürsorge. Ziel ist die Versorgung der Zivilbevölkerung Polens sowie die Befreiung von den deutschen und sowjetischen Aggressoren.

1942 richtet der Polnische Untergrund die Żegota ein, den Rat für die Unterstützung von Juden. Tausende jüdische Kinder werden aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt und dann bei polnischen Familien sowie in Waisenhäusern und Klöstern versteckt.

Als wichtige Informationsquelle für die Bevölkerung entsteht eine konspirative Presse sowie ein Netz von geheimen Schulen und Hochschulen zur Fortsetzung der Bildungsarbeit. In Privatwohnungen finden Kulturveranstaltungen wie Konzerte und Theateraufführungen statt.

Zudem wagt der Untergrund Widerstandsaktionen. Witold Pilecki lässt sich im Jahr 1940 als der bisher einzige bekannte Mensch freiwillig gefangen nehmen und in das deutsche Konzentrationslager Auschwitz bringen, um die Wahrheit über das Lager zu erfahren. Von Mitte 1940 bis zu seiner erfolgreichen Flucht im Frühjahr 1943 organisiert Pilecki in Auschwitz eine Widerstandsbewegung, die der Exilregierung und den Alliierten die ersten mündlich überlieferten Augenzeugenberichte über den beginnenden Holocaust im Vernichtungslager liefert. Später nimmt er an dem vom Untergrund organisierten Warschauer Aufstand 1944 teil.

In einem Brief, den das Archiv der KZ-Gedenkstätte Groß-Rosen besitzt, schildert Tadeusz seine Tätigkeiten für die im Untergrund agierende polnische Heimatarmee. Er partizipiert auch an der Lehre der Jagiellonen-Universität Krakau, die seit der deutschen Besatzung untersagt ist und nur noch im Geheimen stattfinden kann.

Die Universitätslehre im Untergrund steht in Zusammenhang mit einem einschneidenden Ereignis in der Geschichte Polens, der „Sonderaktion Krakau“. Am 6. November 1939 wurden 183 Krakauer Hochschullehrende verhaftet und in das Krakauer Gefängnis Montelupich gebracht. 168 von ihnen wurden anschließend in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau deportiert. Ziel der Aktion war die Vernichtung der polnischen Intelligenz.

Das Archiv der Jagiellonen-Universität bestätigt mir die Immatrikulation von Tadeusz sowie seine Mitgliedschaft in der „Geheimen brüderlichen Hilfsgesellschaft der Studierenden der Jagiellonen-Universität in Krakau“:

Tadeusz wirkte also im Untergrund am Fortbestand des polnischen Bildungssystems mit.

Büro für Information und Propaganda

Den Dokumenten aus Groß-Rosen kann ich entnehmen, dass Tadeusz am 21. Juli 1944 von der Gestapo aufgespürt und verhaftet wird. Er soll zunächst in das Gestapo-Gefängnis Montelupich in Krakau gebracht worden sein.

Im ehemaligen Hauptquartier der Gestapo in Krakau befindet sich heute das Museum Ulica Pomorska. Ich entscheide mich, das Museum zu kontaktieren.

Schnell erhalte ich eine Antwort, welche die Haft bestätigt.

Mitgeschickt wird außerdem der Scan eines Fragebogens des Museums, den Tadeusz im Jahr 1982 als ehemaliger Häftling von Montelupich ausgefüllt hat. Das Dokument gibt detailliert Auskunft zu seinen weiteren Tätigkeiten im polnischen Untergrund, seiner Inhaftierung, den Foltermethoden des Verhörs, seinem weiteren Haftweg und der Befreiung.

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Tadeusz leitet ab 1942 das Büro für Information und Propaganda in Krakau. Von 1940 bis 1945 gibt das Büro die konspirative Zeitung „Wiadomości“ [dt.: „Nachrichten“] in einer Auflage von bis zu 2.000 Exemplaren heraus.
Die Redaktion dieser Schrift übernimmt Zygmunt Starachowicz.
Zusätzlich erscheint ab 1940 die Zeitung „Wytrwamy i Zwyciężymy“ [dt. „Wir halten durch und siegen“].

Die von der deutschen Propaganda beeinflusste polnische Bevölkerung erhält über die Schriften Zugang zu Informationen der Alliierten und der polnischen Exilregierung in London.

Die Verhaftung

Im Fragebogen des Museums Ulica Pomorska schildert Tadeusz die Umstände seiner Verhaftung:

„[Ich wurde] am 21. Juli 1944 um 7 Uhr morgens verhaftet, als ich aus dem Haus in der Krakusa-Straße 15 die sieben gefälschten Kennkarten abholte, die der Verbindungsoffizier, der Bezirkskaplan [mit dem] Pseud.[onym] ‚Kruk‘, dort hinterlassen hatte. Diese sollten an die Partisanengruppe ‚Kościesza‘ in Łysina bei Myślenice übergeben werden. Die Räumlichkeiten wurden jedoch von Gestapoagenten, dem Ehepaar Biesiadecki, verraten [...].“

Die Gestapo lässt Tadeusz nach Verhören und Folterungen im Gefängnis Montelupich schließlich in das KZ Groß-Rosen bringen.

Gerechter unter den Völkern

Mittlerweile erreicht mich ein Antwortschreiben des Stadtarchivs Krakau:

Tadeusz Kot geehrt als ein „Gerechter unter den Völkern“?

Es stellt sich heraus, dass Maria Kot (geb. Kałucka), ihre Mutter sowie ihre Tante von 1940 bis 1943 die Jüdin Sabina Gutfreund und ihre Tochter Aneta in ihrer Wohnung versteckt haben. Dadurch entgingen die beiden dem Ghetto in Krakau und den Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Mit Auflösung des Ghettos organisiert Tadeusz gefälschte Personaldokumente und einen Transport nach Warschau. Bis Kriegsende leben sie unentdeckt bei Familienangehörigen im „arischen Teil“ der Stadt.

Nach einer Anfrage an die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel erhalte ich Zugang zu einem beeindruckenden Dokument: die Bezeugung der Geschehnisse durch Aneta, das Kind, das damals gerettet wurde.

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Nach einer Prüfung durch Yad Vashem werden die Familien Kot und Kałucka als Retter von Sabina und Aneta Gutfreund im Jahr 1998 zu „Gerechten unter den Völkern“ erklärt.

Ehrenurkunde „Gerechte unter den Völkern“ für Maria und Tadeusz Kot, 1998 (The Righteous among the Nations, Yad Vashem, Jerusalem)
Ehrenurkunde „Gerechte unter den Völkern“ für Maria und Tadeusz Kot, 1998 (The Righteous among the Nations, Yad Vashem, Jerusalem)

Mit diesen neuen Erkenntnissen melde ich mich erneut beim Museum Ulica Pomorska in Krakau.

Ich erinnere mich, dass während meines Auslandssemesters am Jüdischen Institut der Jagiellonen-Universität Krakau über eine Ausstellung „Krakauer Gerechte unter den Völkern“ gesprochen wurde. Vielleicht hat das Museum durch die Ausstellungsvorbereitung noch weitere Informationen?

Wieder erhalte ich nach kurzer Zeit eine wichtige Antwort:

In dem Ausstellungskatalog, der mir zugesandt wird, finde ich ein Kapitel zur Familie Kałucka sowie zu Maria und Tadeusz Kot. Ich bin zutiefst berührt, denn...

Tadeusz Kot und Maria Kot (geb. Kałucka) während ihres Studiums an der Juristischen Fakultät der Jagiellonen-Universität, Krakau, um 1937 (Muzeum Fabryka Emaila Oskara Schindlera, Krakau)
Tadeusz Kot und Maria Kot (geb. Kałucka) während ihres Studiums an der Juristischen Fakultät der Jagiellonen-Universität, Krakau, um 1937 (Muzeum Fabryka Emaila Oskara Schindlera, Krakau)

... zum ersten Mal sehe ich ein Bild von der Person, die hinter der Skulptur und all den Geschichten steckt.

Vermächtnis

Nach dem Krieg kehrt Tadeusz zu seiner Familie nach Krakau zurück. Viele Jahre wirkt er als Vorsitzender des Krakauer Sozial- und Wohlfahrtskomitees des Kriegsinvalidenverbandes.

Im Jahr 1989 erfüllt sich sein langwährender Wunsch nach einem souveränen und freien Staat, der Dritten Republik Polen.

1995 verstirbt Tadeusz. Die Ehrung als „Gerechter unter den Völkern“ erlebt er nicht mehr.

Im Jahr 1997 fasst Maria Kot in einem Zeitzeugenbericht die Werte der Familie zusammen: „In zwei Fällen ist Angst nicht erlaubt - im Krieg und in der Liebe.“

Grabstätte der Familie Kot in Krakau, 2023 (Foto: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg)
Grabstätte der Familie Kot in Krakau, 2023 (Foto: KZ-Gedenkstätte Flossenbürg)
Die Recherche hat mir gezeigt, welch ungeahnten Geschichten und Schicksale sich hinter Objekten verbergen können, die unser Archiv erreichen.

Eine Research Story von René Wennmacher, KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, 2023.