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„Wo ist das Grab meines Großvaters?“,
möchte Bruno Mordeglia 78 Jahre nach Kriegsende wissen.

Großvaters Grab

Ich bin seit eineinhalb Jahren an der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, als uns Bruno Mordeglia schreibt. Sein Großvater Eugenio Ansaldi war hier Häftling und überlebte das Lager nicht.

Jetzt sucht der Enkel seine Grabstätte. Er möchte so bald wie möglich nach Flossenbürg kommen, um seines Großvaters zu gedenken.

Anfragen nach den Todesumständen oder dem Begräbnisort von Häftlingen erreichen die Gedenkstätte häufig. Angehörige suchen einen Ort, an dem sie um die Toten trauern können.

Die Gräber auf dem Ehrenfriedhof der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg stehen auch für unbekannte Tote (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg)

Eine schwierige Aufgabe

Aus Erfahrung weiß ich: Grablagen genauer zu bestimmen, kann schwierig sein.

Die Toten der Konzentrationslager erhielten keine würdevolle Bestattung. Fast immer endeten sie in Massengräbern.

Im Hauptlager Flossenbürg und zweien seiner Außenlager, Leitmeritz und Hersbruck, wurden die Toten verbrannt und ihre Asche achtlos weggeschüttet.

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Ein zusätzliches Problem sind die bruchstückhaften Aufzeichnungen zu den Begräbnisorten in der Nachkriegszeit. Nach Kriegsende wurden die Toten teilweise mehrfach exhumiert, um sie angemessen zu bestatten.

Leider wurden diese Aktionen nur lückenhaft dokumentiert, sodass mit jeder Umbettung Informationen verloren gingen.

Kurz gesagt: Leider ist es oft eine Frage des Glücks, eine Grablage identifizieren zu können.

Beginn der Recherche

Ich beginne meine Recherche in unserer Datenbank Memorial Archives. Sie zeigt mir die Eckdaten der Verfolgungsgeschichte des Großvaters.

Eugenio Ansaldi wird Januar 1945 verhaftet und kommt über das polizeiliche Durchgangslager Bozen mit 408 weiteren italienischen Häftlingen nach Flossenbürg. Er erhält die Nummer 43486.

Kurz nach seiner Ankunft im Hauptlager Flossenbürg wird er mit 250 anderen Häftlingen im Februar 1945 in das Außenlager Porschdorf überstellt.

Selbst ein Todesdatum ist vermerkt - der 16. April 1945.

Heute erinnert nichts mehr an das Außenlager Porschdorf. Die Häftlingsunterkünfte befanden sich gegenüber dem örtlichen Bahnhof.

Luftbild des ehemaligen Außenlagers Porschdorf, Februar 2019 (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg / Foto: Rainer Viertlböck)

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Archivmaterial

Die Datenbank enthält auch Scans von Dokumenten der Verwaltungen der Konzentrationslager.

Relativ häufig erhalten ist die sogenannte Effektenkarte. Sie gibt manchmal Hinweise auf die Familie und zum Verbleib des Häftlings. Im Fall von Eugenio Ansaldi ist die Karte jedoch fast leer und enthält keine neuen Informationen.

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Erhalten ist auch der Eintrag in die sogenannten Nummernbücher. Alle Flossenbürg-Häftlinge wurden darin mit Geburtsdatum, Geburtsort sowie einer Haftkategorie registriert.

Demnach war Ansaldi als politischer Schutzhäftling inhaftiert. Wichtiger ist in diesem Fall jedoch, was nicht aufgeschrieben wurde.

Versteckte Hinweise im Nummernbuch

Eugenio Ansaldis Tod wurde nicht im Nummernbuch vermerkt.

Eine mögliche Erklärung ist, dass der Informationsfluss innerhalb der Lagerverwaltung in den letzten Kriegswochen eingeschränkt war. Informationen über Todesfälle in den Außenlagern gelangten nicht mehr ins Hauptlager.

Der 16. April 1945 fällt als angebliches Todesdatum in diesen nicht verlässlich dokumentierten Zeitraum.

Das bedeutet, Ansaldi starb vermutlich kurz vor oder nach der Befreiung an den körperlichen Folgen der Haft.

Nicht nur im Nummernbuch, auch in anderen Dokumenten finde ich keine Hinweise auf seinen Tod. Woher ist also bekannt, dass Eugenio Ansaldi am 16. April 1945 starb?

Möglicherweise stammt diese Information von einem Augenzeugen. Das könnte auch erklären, warum die Familie davon ausgeht, er sei in der Nähe des Lagers gestorben.

Augenzeuge gesucht

Ich schaue mir den Datenbankeintrag noch einmal genauer an. Es gibt dort einen Vermerk:

„Starb laut Bericht von Raimondo Vazon auf dem Todesmarsch vom Außenlager Porschdorf nach Oelsen, bereits nach wenigen Kilometern.“

Datenbankeintrag zu Eugenio Ansaldi in den Memorial Archives (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg)

Eine kurze Recherche zeigt, dass Vazon und Ansaldi mit denselben Häftlingstransporten in das KZ Flossenbürg und das Außenlager Porschdorf kamen. In unserer Datenbank finde ich die Transportlisten mit ihren Namen:

Außenlager Porschdorf

Am 3. Februar 1945 werden 250 männliche Häftlinge vom Hauptlager Flossenbürg nach Porschdorf in Sachsen überstellt. Der Großteil der Häftlinge sind Italiener, die erst kurz zuvor mit einem Transport aus Bozen im KZ Flossenbürg angekommen waren. Mit ihnen werden 21 Russen, elf Belgier, elf Polen, zehn Deutsche und Angehörige sechs weiterer Nationen in Porschdorf festgehalten. Bewacht werden die Häftlinge von rund dreißig SS-Männern.

Die Häftlinge in Porschdorf bauen hauptsächlich Stollen für die geplante Untertageverlagerung der Produktion von Flugbenzin. Mit Königstein und Mockethal-Zatzschke gibt es zwei weitere Flossenbürger Außenlager in der Sächsischen Schweiz, die für den Wiederaufbau der durch die Bombenangriffe der Alliierten geschädigten Treibstoffproduktion eingerichtet wurden.

Untergebracht sind die Häftlinge auf dem Gelände eines ehemaligen Sandsteinbruchs in der Gemeinde Rathmannsdorf. Zur Arbeit müssen sie täglich eine halbe Stunde marschieren. Bereits Mitte April 1945 wird das Lager aufgelöst, da die Rote Armee näher rückt. Während der kurzen Zeit, in der das Außenlager besteht, sterben mindestens neun Häftlinge im Lager selbst, weitere sterben kurz nach ihrer Verlegung in andere Außenlager. Viele Häftlinge kommen außerdem auf dem Todesmarsch nach der Evakuierung des Lagers ums Leben – wie Eugenio Ansaldi.

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Die Suche nach dem Bericht

Kolleg*innen berichten, Raimondo Vazon habe bis zu seinem Tod regelmäßig die Gedenkstätte besucht. Zu seiner Familie bestehe immer noch Kontakt. Bei einem Besuch hätten Vazons Angehörige unserem Archiv Kopien einige seiner Briefe übergeben.

Ist mit dem Bericht Vazons, von dem in unserer Datenbank die Rede ist, etwa einer dieser Briefe gemeint?

Tatsächlich taucht in einem von ihnen der Name Ansaldi auf. Der Vorname lautet hier jedoch Adriano...

Ein Fehler oder handelt es sich um einen anderen Häftling? Ist Eugenio doch nicht auf dem Todesmarsch gestorben?

Noch gebe ich die Suche nach dem Bericht von Raimondo Vazon nicht auf. Vazon soll als Zeitzeuge auch Porschdorf besucht haben. Vielleicht entstand der Bericht in diesem Zusammenhang?

Im Internet stoße ich auf die Chronik der Gemeinde, in der Oelsen liegt. Und tatsächlich! Die Chronik enthält Vazons Bericht, dass Eugenio Ansaldi auf dem Todesmarsch gestorben sei. Außerdem wird Adriano als sein Cousin benannt.

Rücksprache mit dem Enkel

Adriano ein Cousin von Eugenio Ansaldi? Ich schicke seinem Enkel Bruno Mordeglia eine E-Mail und frage nach. Außerdem sende ich ihm meine vorläufigen Rechercheergebnisse, damit er sich auf seine Reise nach Deutschland vorbereiten kann.

Ich lade Bruno Mordeglia außerdem zu den anstehenden Feierlichkeiten zum 77. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg ein. An diesem Tag werden viele Angehörige und sogar einige Überlebende vor Ort sein.

Ausweitung der Recherche

Von einem Cousin weiß Bruno Mordeglia also nichts. Ich nehme deshalb direkt Kontakt zum Stadtarchiv von Bad Gottleuba-Berggießhübel auf. Der Schlüssel zu Eugenio Ansaldis Grablage scheint der dort vorliegende Bericht von Raimondo Vazon zu sein.

Bevor Mordeglia zum Jahrestag der Befreiung die Gedenkstätte Flossenbürg besucht, hoffe ich noch mehr herausfinden zu können.

Sofort lese ich den Bericht, schreibe Bruno Mordeglia aber noch nicht. Ich möchte dem Enkel meine Ergebnisse persönlich bei seinem Besuch berichten.

Treffen mit dem Enkel

Am Jahrestag der Befreiung besuchen mehrere hundert Gäste die Gedenkstätte. Einige Male verpasse ich Bruno Mordeglia, aber nach dem Gedenkakt finden wir uns.

Aus seiner Tasche zieht Mordeglia ein Fotomedaillon. Es zeigt seinen Großvater kurz vor der Deportation. Es ist sehr ergreifend, nach der Recherche nun plötzlich das Gesicht von Eugenio Ansaldi zu sehen.

Eugenio Ansaldi kurz vor seiner Deportation im Januar 1945 (Privatbesitz)

Ich wiederum zeige dem Enkel den Bericht des Überlebenden Raimondo Vazon. Der Bericht ist sehr detailliert und passt zu dem, was schon bekannt ist. Daher scheint er mir als Quelle vertrauenswürdig.

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Die Todesumstände

Durch Vazons Bericht lässt sich rekonstruieren, wie Eugenio starb. Es geschah demnach nach der Auflösung des Außenlagers Porschdorf.

Ich erkläre Bruno Mordeglia, dass die SS versuchte, die Lager vor der Ankunft der Alliierten zu räumen. Viele der entkräfteten Häftlinge starben auf diesen tagelangen Märschen oder Transporten. Sie werden deshalb heute Todesmärsche genannt.

Laut dem Bericht brach sein Großvater bereits nach wenigen Kilometern Fußmarsch vor Erschöpfung ohnmächtig zusammen und wurde auf einen Karren gelegt. Wenig später war er tot.

Die deutschen Bewacher hätten ihn dann auf einem Feld verscharrt. All das geschah vermutlich am 16. April 1945.

Annäherung an den Todesort

Auf einer Karte aus dem Jahr 1941 versuchen Bruno Mordeglia und ich, die letzten Stunden im Leben seines Großvaters zu verorten. Von Porschdorf in Richtung Oelsen – irgendwo zu Beginn der Strecke starb Eugenio.

Karte des Deutschen Reiches im Maßstab 1: 100 000, Großblatt 101: Umgebung von Dresden, hg. vom Reichsamt für Landesaufnahme, Berlin 1941 (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg / Bayerische Staatsbibliothek)

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Die Grablage

Dank der Stadtchronik von Bad Gottleuba-Berggießhübel kann ich dem Enkel außerdem berichten, dass die Opfer des Porschdorfer Todesmarschs im September 1945 exhumiert und in einem Massengrab auf dem alten Friedhof in Oelsen beigesetzt wurden.

Bei der Exhumierung wurden keine Versuche unternommen, die Leichen zu identifizieren.

Exhumierungen und Umbettungen

Als im Frühjahr 1945 alliierte Truppen Geländegewinne in deutsch kontrollierten Gebieten erzielen, will die Konzentrationslager-SS die Befreiung der Häftlinge verhindern. Zunehmend werden Häftlinge in Konzentrationslager im Innern des Deutschen Reichs gebracht. Der Kriegsverlauf schränkt geordnete Häftlingstransporte mit Zügen zunehmend ein. Die Häftlinge werden stattdessen auf tage-, manchmal wochenlange chaotische Märsche geschickt. Zehntausende Häftlinge kommen ums Leben; wer zu schwach zu gehen ist, wird zum Sterben zurückgelassen oder ermordet. Wegen der vielen Todesopfer hat sich die Bezeichnung „Todesmärsche“ durchgesetzt.

Eilig angelegte Gräber säumen die Todesmarschrouten. Nach dem Krieg befragen die Besatzungsbehörden die deutschen Gemeinden, ob durch ihre Dörfer Marschkolonnen von KZ-Häftlingen kamen, ob und wo es Gräber gibt und wie viele Tote dort begraben sind. Auf diese Weise sollen die Marschwege und die Verbrechen der Kriegsendphase rekonstruiert werden. Zudem soll den Opfern eine angemessene letzte Ruhestätte geschaffen werden. Die oftmals am Wegesrand verscharrten Toten werden exhumiert und auf lokalen Friedhöfen oder eigens angelegten Ehrenfriedhöfen beerdigt.

In den 1950er Jahren kommt es teilweise zu weiteren Exhumierungen und anschließenden Umbettungen auf Ehrenfriedhöfe oder Rücküberstellungen der Toten in ihre Heimatländer. Leider werden die Toten nie vollständig identifiziert. Sind bei den Exhumierungen Identifikationen möglich, gehen diese Informationen oftmals bei der Umbettung verloren. In den späten 1950er Jahren, als die letzten Ehrenfriedhöfe für NS-Verfolgte errichtet werden, wird „Anonymität“ als gestalterisches Mittel eingesetzt. Die Gräber sollen symbolisch für alle Verstorbenen stehen, die als Kriegsopfer angesehen werden, und nicht nur für diejenigen, deren Leichname geborgen und identifiziert werden konnten.

Es ist dennoch anzunehmen, dass Eugenio heute auf dem Friedhof in Oelsen begraben liegt.

Die vermutliche Grabstätte von Eugenio Ansaldi (Stadt Bad Gottleuba-Berggießhübel, Ortsarchiv Oelsen)
Die vermutliche Grabstätte von Eugenio Ansaldi (Stadt Bad Gottleuba-Berggießhübel, Ortsarchiv Oelsen)
Die meisten Häftlinge sterben einen anonymen Tod. Aus den Dokumenten der Lagerbürokratie können wir in der Regel nichts über die Todesumstände erfahren. In diesem Fall hat das Zeugnis des Überlebenden Raimondo Vazon die Erinnerung an Eugenio Ansaldis Tod bewahrt.

Eine Research Story von Louis Volkmer, KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, 2023

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